Transgenerationale Traumata

Das Schweigen der Familie gebiert Albträume

Von Stephan Wackwitz  - zuletzt Aktualisiert am 16.04.2022-20:32

Man könnte sie als eine Kriegsenkelin bezeichnen: In ihrem Buch „Alles, was wir nicht erinnern“ begibt sich Christiane Hofmann auf eine lange Wanderung, um die Geister der Vergangenheit zu bannen. Im Amerikanischen heißt es, man könne zwar einen Menschen aus seiner angestammten Gegend entfernen, nicht aber jene Gegend aus dem betreffenden Menschen. Die Familienmemoiren der langjährigen Auslandskorrespondentin – und seit Januar 2021 stellvertretenden Regierungssprecherin – Christiane Hoffmann beweisen, dass dieser Grundsatz Geltung auch über Generationen hinweg hat. Psychologen sprechen von telescoping: Wie die Tuben eines Fernrohrs oder Mikroskops bewegen sich die Erinnerungen von Eltern und Kindern ineinander. Und seltsamerweise beeinflussen die Traumata der Vorfahren Nachgeborene umso intensiver, je weniger sie familiär besprochen werden.

Genau wie mit einem Fernrohr oder einem Mikroskop sieht man mit der transgenerationalen Erinnerung das psychologisch Nahe und das historisch Ferne schärfer, auch dramatischer. Das Schweigen der Familie gebiert Albträume. Aus winzigen Andeutungen, Symptomen und Tics der Eltern bilden sich Ahnungen. Aber auch der Wunsch, zu verstehen, entsteht, das Verlangen nach einer Art Kompensation. Die Geister der Vergangenheit sollen im eigenen Seelenleben zur Ruhe kommen.

 

Ein dunkler sumpfiger Grund

Christiane Hoffmann ist die Tochter von Eltern und Enkelin von Großeltern, die durch den Zweiten Weltkrieg und durch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Schlesien – nach den Beschlüssen der Alliierten in Teheran, Jalta und Potsdam – auf vielfältige Weise traumatisiert wurden. Sie ist in Hamburg geboren und in Wedel aufgewachsen. Aber aufgrund der „spukhaften Fernwirkung“ historischer Verletzungserfahrungen ist sie in gewisser Weise trotzdem ein Kriegskind. Man könnte sie als eine Kriegsenkelin bezeichnen.

 

Ihr Buch beschreibt eindringlich, wie das telescoping in ihrer kindlichen Psyche funktioniert hat. „Auch in meiner Kindheit wird ein dunkler sumpfiger Grund liegen, wie ein Moor, in dem man leicht versinken kann, man muss sehr gut achtgeben, auf den ausgeschilderten Wegen zu bleiben, immer vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein und nicht zu tief ins Schwarze zu schauen, es kann einen hinabziehen. Das ist die Gewissheit, dass man von heute auf morgen, von einer Stunde zur nächsten, von sechzehn auf siebzehn Uhr alles verlieren kann, Haus und Hof, Söhne, Brüder und Eltern, Heimat und sogar die Erinnerung.“ Die heute erfolgreiche und resiliente Erwachsene war ein ängstliches Kind. Und als ihr geliebter Vater 2018 stirbt, fasst sie den Entschluss zu der inneren und äußeren Reise, deren Logbuch jetzt vorliegt.

Nachdem sie das schlesische Dorf, aus dem ihre Familie stammt – Rosenthal/Rozyna in der polnischen Woiwodschaft Opole –, schon als Kind mit ihren Eltern mehrmals besucht hat, bricht sie im Januar 2020 zu dem Abenteuer auf, den Fußweg, den ihre Eltern, ihr Onkel und ihre Großmutter 1945 hinter sich brachten, noch einmal abzuwandern. Der Vertriebenenzug verließ 1945 das Reichsgebiet nicht. Heute führt die Strecke durch drei Staaten, aus der Gegend um die ehemals herzogliche Residenzstadt Brieg (heute polnisch: Brzeg) über die Oder und die deutsch-polnische Grenze, durch Zittau und dann das tschechische Nordsudetenland entlang bis in die Gegend zwischen Eger und Plauen, wo die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte der Familie beginnen wird.

Europa, so wie es wirklich ist

Christiane Hoffmanns Bericht von ihrer Fußreise ist eine Art Brief an den toten Vater. Als Adressat – und zeitweilig sogar als eine jener nur aus dem Augenwinkel beobachtbaren Halluzinationen, wie sie auf einsamen Wanderungen entstehen können – ist er in ihrem Buch durchgehend anwesend. Die Tochter sieht als Erwachsene jetzt ins Dunkel ihrer Kinderangst hinab. Aber es verschlingt sie nicht mehr. Das schwarze Loch Geschichte gibt sein Geheimnis, ansatzweise, jetzt sogar frei.

Worin besteht es? Einerseits darin, dass Hoffmann die Albträume und Ahnungen ihrer Kindheit verstehend in die eigene Leiblichkeit zurückholt. Im langen Gehen verbindet sie ihre zunehmende Entkräftung, ihre schmerzenden Gliedmaßen, ihre Wanderstumpfheit, Verwirrung und Angst mit dem Wenigen, was sie über den Treck ihrer Familie weiß. „Ich bin zufrieden damit, Eure Erschöpfung zu fühlen, gleichgültig und leer zu werden, heimatlos wie ihr, auch wenn es nur für einige Wochen ist.“ Das ist die Innenseite ihres Unternehmens, und sie schildert es in großer Authentizität. Nur in Passagen, wo sie sich allzu sehr um literarische Hochmodulation ihrer Erfahrung bemüht, gleitet ihr Bewusstseinsstrom gelegentlich in Kunsthandwerk ab, und es entstehen Sätze wie „Das wintergelbe Gras drückt sich in den Straßengraben wie eine Schar verängstigter Küken“.

 

Was eine literarische Bearbeitung nicht leisten kann

Vor allem die ausführlich und gekonnt wiedergegebenen Gespräche mit polnischen, tschechischen und deutschen Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegnet, zeigen „Europa, so wie es wirklich ist“. Das wirkliche Mitteleuropa besteht erstens aus dem beeindruckenden Aufbau- und Überlebenswillen der ehemaligen kommunistischen Untertanen und zweitens aus dem überraschend empathischen Verständnis vor allem der Neubürger von Schlesien/Slask für das Schicksal der deutschen Vertriebenen. Diese Einfühlungsfähigkeit überrascht weniger, wenn man bedenkt, dass die meisten Westpolen aus der heutigen Ukraine stammen und ihre Eltern ganz analoge Erfahrungen hinter sich haben.

 

Hoffmann begegnet auf ihrem Weg viel gutem Willen, überraschender Originalität und beeindruckendem Einfallsreichtum. Aber daneben auch viel politischer Verbohrtheit, Verschwörungsquatsch, PiS-Verhetztheit, auch Antisemitismus – oft in ein und derselben Person. Ihre Vaterbindung ermöglicht ihr auffällig eindrückliche Porträts von älteren, durch die Geschichte zerstörten Männern, das Beispiel der Mutter wiederum hat Hoffmanns Blick für die ebenso auffällige Realitätstüchtigkeit und Tatkraft vieler der polnischen und tschechischen Frauen geschärft, die sie wandernd und einkehrend kennenlernt.

Der Ausgang ihres Buchs ist offen, bis hin zu einem gewissen erzähltechnischen Zerflattern. Eine psychologische Schließung des transgenerationalen Traumas kann literarische Bearbeitung nicht leisten. Unterdessen und nachdem das Buch schon erschienen war, fügte sich dieser familienhistorischen Wanderungserzählung durch den Krieg in der Ukraine ein haarsträubender Schlusspunkt in der Realgeschichte an. Auf tieftraurige Weise ist es mit der neuerlichen europäischen Fluchtkatastrophe ein Buch zum historischen Moment geworden.

Christiane Hoffmann: „Alles, was wir nicht erinnern“. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters. C.H. Beck Verlag, München 2022. 279 S., Abb., geb., 22,– €.

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/alles-was-wir-nicht-erinnern-christiane-hoffmanns-buch-ueber-krieg-17918856.html